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AutorenbildK. H.

Toxische Scham - Teil I Was Scham ist und wie sie entsteht

Aktualisiert: 7. Okt. 2023


Wenn eine Blume nicht blüht, suchst du die Ursache bei der Pflanze oder bei ihren Umgebungsbedingungen?


Scham hasst es, wenn wir uns an jemanden wenden und unsere Geschichte erzählen. Sie hasst es, mit Worten umwickelt zu werden - sie kann es nicht überleben, geteilt zu werden. Scham liebt Geheimniskrämerei... Wenn wir unsere Geschichte begraben, metastasiert die Scham." Brené Brown

Als ich anfing, mich mit dem Thema Scham und toxische Scham zu beschäftigen, sind mir so viele Lichter aufgegangen. Ich habe gemerkt, was für einen grossen Einfluss sie auf mein bisheriges Leben hatte. Und nicht nur auf mein Leben. Über Generationen hinweg sehe ich dies als einen roten Faden, der sich durch unsere Familiengeschichte zieht mit gravierenden Auswirkungen auf unser Befinden. Toxische Scham hat viele negative Konsequenzen, es ist ein destruktives Gestrick an Emotionen und hat mit dem negativen Selbstbild zu tun, unter dem viele von uns leiden.

Die Scham spielt eine unterschwellige Rolle in unserem alltäglichen Geschehen, von uns oft unbemerkt, beeinflusst sie unsere Handlungen und Stimmungen. Deshalb ist es sinnvoll, die Scham näher kennenzulernen und besser zu verstehen.

Trigger Warnung: dieses Thema kann Betroffene triggern. Wenn man sich mit schmerzvollen Emotionen beschäftigt, empfiehlt es sich auch immer mal wieder zwischendurch an etwas Positives zu denken. Auch wenn dies ein schweres Thema ist, lohnt sich das genaue Hinschauen und Verstehen, was hinter der Scham steht, weil dies schon für sich genommen ein wichtiger Heilungsschritt sein kann.


Was ist Scham?


In seinem Buch "Die Scham" charakterisiert Wilfried Ehrmann diese als ein Gefühl, das tabuisiert und unterschätzt wird. Sie agiere geheim und führe ein mächtiges Regiment aus dem Unbewussten heraus. Sie hat einen erheblichen Einfluss auf die Ursachen von Selbstmord, selbstverletzendem Verhalten und Sucht. Sie wurde lange Zeit ignoriert und kaum untersucht. Heutzutage wird sie als entscheidendes Motiv im täglichen Leben und bedeutende Quelle von Stress angesehen.

Jedoch hat jedes Gefühl evolutionsbiologisch seinen Sinn: es will uns entweder schützen, etwas aufzeigen oder auf etwas aufmerksam machen. Scham an sich hat eine wesentliche Bedeutung für unser soziales Zusammenleben. In seiner Essenz ist Scham konstruktiv: wir Menschen sind von Anfang an darauf angewiesen, dass andere für uns da sind. Scham ist ein Sensor für Beziehungen, stellt ein harmonisches Zusammenleben in der Familie sicher und dient als Richtpfeil für das notwendige Verhalten. Es hat zum Ziel, Grenzüberschreitungen zu vermeiden oder zu zeigen, wo Reparaturen oder Wiederherstellungsmaßnahmen notwendig sind. Scham beschützt uns davor, zurückgewiesen oder abgelehnt zu werden. Deswegen ist es wichtig, einen guten Bezug zu diesem Gefühl zu haben.

Toxische Scham geht über eine reine Emotion hinaus, man kann es als eine negative Grundüberzeugung über uns selbst betrachten, als das, was wir an Negativem über uns selbst glauben, darüber wer oder was wir seien. Damit gehen bestimmte schwierige Emotionen einher, die Schamgefühle genannt werden. Wenn wir toxische Scham haben, bedeutet dies, dass wir die grundlegende Überzeugung haben, dass etwas ungenügend an uns ist, dass wir nicht wertvoll oder liebenswert sind. Aus diesem Grund sehen wir uns insgesamt als nicht gut genug oder anderen Menschen gegenüber als minderwertig an.

Jeder Mensch, der ein komplexes Trauma erlebt hat, hat ein bestimmtes Maß an Scham: Je größer das Trauma, desto höher die Scham. Betroffene Menschen haben häufig so wenig Selbstvertrauen, dass es ihnen schwerfällt, sich im Spiegel zu anzusehen.


Wie entsteht toxische Scham?


«Traumata erzeugen ein schambehaftetes Selbstbild... In der Erfahrung des Schamgefühls steckt das durchdringende Gefühl, in irgendeiner Weise in seiner Menschlichkeit grundlegend unzulänglich zu sein. Wer die Narben eines Traumas davongetragen hat, entwickelt fast ausnahmslos ein Selbstbild, das auf Scham basiert.» Dr. Gabor Maté, «Vom Mythos des Normalen» S. 49f

Zusammengefasst kann man sagen, dass toxische Scham aus einem Beziehungsmangel, einem Mangel an Liebe, Verbundenheit und Wertschätzung entsteht.

Jedes Kind hat auf einer unbewussten Ebene eine tiefe Sehnsucht und den Wunsch danach, gewollt zu sein. Es fragt sich: Leuchten die Augen der Menschen auf, wenn sie mich anschauen? Ich möchte liebenswert sein, wertvoll sein, wichtig sein, etwas bieten können. Mögen mich die Menschen? Freuen sie sich, Zeit mit mir zu verbringen?

Wie bekommen wir die Antworten auf diese Fragen?

Durch Spiegel: wie die eigenen Eltern mich behandeln, was sie zu mir sagen, ihre Haltung mir gegenüber spiegelt mir wider, ob ich wertvoll bin und ob ich liebenswert bin.

In einem gesunden Zuhause fühlt sich das Kind geliebt, verbunden, dazugehörig, wertgeschätzt, genährt. Durch diese positive Bestätigung entsteht eine Identität als jemand, der liebenswert und wertvoll ist.

Wenn ein Kind diese positive Bestätigung nicht oder nicht ausreichend erfährt, sucht es die Schuld bei sich: etwas muss mit mir nicht stimmen, ich bin nicht gut genug, so wie ich bin. Ein Kind hat nicht die Fähigkeit, die Ursache für diesen Mangel bei jemand anderem als sich selbst zu sehen.

Und vor Allem dort, wo in der Kindheit eine Beschämtheitserfahrung ohne ein empathisches Gegenüber stattfindet und dieses Gegenüber weiter im Vorwurf bleibt und nicht dafür sorgt, dass die Schamerfahrung im Kind wieder auf ein erträgliches Mass heruntergeregelt wird, wirkt es katastrophal auf Kinder. Denn es ist ganz schwer, aus dem Schamgefühl wieder rauszukommen. Kinder können das nicht allein. Dadurch bleiben sie in der Scham. Dies ist für das Kind überwältigend und in vielen Fällen traumatisch.


Eine Liste problematischer Verhaltensweisen der Bezugspersonen, die je nach Dauer und Intensität, toxische Scham beim Kind auslösen können:


a) Ausgelacht werden, die Äusserungen des Kindes werden abgewertet und lächerlich gemacht

b) Beschämungen durch Herabsetzungen, Beschimpfungen, Hänseleien, verletzende Scherze

c) Ständige Kritik, nichts was das Kind tut ist gut genug. Keine Wertschätzung, kein Lob, Vergleiche mit

anderen Kindern, die vermeintlich besser sind, fremde Kinder werden wertschätzender behandelt als

man selbst.

d) Schuldzuweisungen, wo keine Schuld da ist; Kind wird für alles verantwortlich gemacht

e) Gefühle des Kindes werden als falsch beurteilt, Ausdruck, Mitteilen der Gefühle wird bestraft, die

Wahrheit des Kindes wird negiert.

f) Versprechen werden gebrochen

g) Keine Disziplin, es werden keine Grenzen gesetzt

h) Vernachlässigung, Eltern sind emotional nicht erreichbar. Das Kind will sich mit dem Elternteil

verbinden, aber kann es nicht.

i) Bedürfnisse werden regelmässig nicht befriedigt.

j) Misshandlung – verbal, emotional, körperlich

k) Verlassen werden (z.B. Adoption, Trennung/ Scheidung, Krankheit)

l) An Bedingungen geknüpfte Liebe


Die Prägungen unserer deutschen Eltern und Grosseltern


Die Psychologin und Journalistin Anne Kratzer hat für Spektrum.de, ein Online- Wissenschaftsportal der Zeitschrift «Spektrum der Wissenschaft», einen Artikel über die nationalsozialistische Kindererziehung geschrieben. Ihre Recherchen ergaben, dass die Folgen dieser Erziehung bis heute nachwirken. Die Bücher von Johanna Haarer waren damals Bestseller, ihre Lehre wurde in Schulungen und Müttergruppen weitergegeben und «forderten Mütter dazu auf, die Bedürfnisse ihrer Babys gezielt zu ignorieren. Die Kinder sollten emotions- und bindungsarm werden. … Weine das Kind, solle man es schreien lassen. Übermässige Zärtlichkeiten seien in jedem Fall zu vermeiden.» Ziel war, gute Soldaten für den Krieg heranzuziehen. Das Kleinkind wurde «Haustyrann» und «Quälgeist» genannt, dessen Wille die Mutter brechen muss. Die «Überschüttung des Kindes mit Zärtlichkeiten» wertete sie als eine «äffische» Zuneigung ab, die «verderblich und verweichlichend» sei. Gleich nach der Geburt solle das Kind für 24 Stunden isoliert werden. Die Mutter solle das Kind möglichst wenig berühren und ihm nicht in die Augen blicken.

Entwicklungsforscher sagen, dass ein neugeborenes Kind nur durch Mimik und Gestik kommunizieren kann, und dass jede Verweigerung einer Zuwendung, nach der ein Kind ruft, eine Zurückweisung darstellt. Als Ergebnis lernt es, dass seine Äusserungen wertlos sind, und schlimmer noch, als Kleinkind kann es Todesangst haben, wenn es einsam ist und nicht beruhigt wird. Dies kann zu einem Bindungstrauma führen. Das Buch von Johanna Haarer «Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind» wurde bis 1987 gedruckt und insgesamt 1,2 Millionen Mal verkauft.

Bereits vor der nationalsozialistischen Zeit war vor allem in den nordöstlichen Bereichen Deutschlands eine strenge preussische Erziehung, in der Hartherzigkeit, Strenge und Züchtigung üblich waren, weit verbreitet. Studien deuten darauf hin, dass die Weitergabe von gestörtem Bindungsverhalten über Generationen hinweg sich auf die Biologie auswirke: zum Beispiel auf eine unnormale Stressverarbeitung.

Wenn die Bezugspersonen also die natürlichen Bedürfnisse eines Kindes als tyrannisch und quälend werten und ihm keine positive Bestätigung geben, - wie fühlt sich dann das Kind? Nicht gewollt, nicht geliebt, nicht wertvoll und nicht verbunden. Und da das Kind keine andere Möglichkeit hat, als die Ursache dafür bei sich selbst zu suchen, entwickelt es die Identität als jemand, der grundlegend mangelhaft ist.

Das Zuhause hat als Spiegel die grösste Bedeutung und Auswirkung. Aber es gibt auch noch andere Spiegel. In der leistungsbetonten Gesellschaft, in der wir heute leben, gibt es leider viele Ansätze, um Scham, wenn sie schon vorhanden ist, zu bekräftigen. Durch Mobbing zum Beispiel: regelmässiges herabgesetzt werden durch Mitmenschen. Oder einfach durch ständiges Vergleichen und Konkurrieren.

Und so kann man nachvollziehen, dass diese Spiegelungen Auswirkungen haben auf die Selbstwahrnehmung des Kindes und auf sein Gespür dafür, wer es ist und ob es gut genug ist.


Die Emotionen der Scham


Welche weiteren Gefühle können in Verbindung mit einer toxischen Scham entstehen?

a) Schmerz, Angst, Sorge, Unsicherheit

b) Depression

c) Selbsthass, Härte sich selbst gegenüber

d) Wut

e) Minderwertigkeitsgefühl

f) Unzufriedenheit

g) Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht


Toxische Scham macht nichts weiter, als noch mehr negative Gefühle zu produzieren – und zwar sehr starke negative Gefühle. Also die Emotionswelt einer schambasierten Person ist vor allem durch negative Emotionen geprägt. Und es ist sehr schwer damit zu leben, wenn man nicht weiss, wie man die Scham heilen kann. Man findent allein keinen Weg, um sie aufzulösen, dadurch kann man auch die negativen Emotionen nicht verhindern. Toxische Scham endet also nicht einfach mit Scham, sondern sie führt zu noch mehr Schmerz. Nichts Gutes kommt durch toxische Scham.



Eine Inspiration


Es geht mir hier nicht um Schuldzuweisungen von elterlichen Bezugspersonen, die wahrscheinlich selber traumatisiert sind, sondern um einen Weg zurück zur Ganzheit.

«Wenn wir beschliessen die Dinge so zu sehen, wie sie sind, kann der Heilungsprozess beginnen. Es gibt keine Garantie auf Heilung, aber sie ist verfügbar.» Dr. Gabor Mate

Radikale Annahme und Akzeptanz dessen, was ist, die Hingabe, das Eintauchen und Loslassen hilft uns im Umgang mit schwierigen Emotionen. Gestatten und Erlauben und zu umarmen, was ist. Alles ist erlaubt, alles darf sein so, wie es jetzt gerade ist. Auch wenn man sich überwältigt fühlt. Ohne Ziel. Umarme das Durcheinander, das Zerbrochene.

Je mehr unsere unverhandelbaren Bedürfnisse z.B. nach Sicherheit, nach Nahrung oder nach Liebe nicht erfüllt werden oder wurden, desto intensiver sind unsere Emotionen. Sie entsprechen unserer menschlichen Natur und sind universell. Emotionen sind starke Lebensenergie, die unser Leben beschützen will. Wenn ich sie als solches sehen kann, dann sind die Emotionen eher wie ein Strom, der durch mich hindurchfliesst, und das ist gut so. Sie versuchen mir zu helfen. Wir können die Gefühle in unserem Körper lokalisieren und uns bewusst machen, dass dies Lebensenergie ist, die das Leben schützen will. Bedanken wir uns bei dem Gefühl, um zu ehren, dass dies eine wesentliche Lebensenergie ist. Dies kann unsere Beziehung zu unseren Emotionen verbessern. Wir sind nicht unsere Emotionen, sondern es ist eine Energie, die durch uns hindurchfliesst und mit der wir uns nicht identifizieren müssen, die aber eine wichtige Botschaft für uns hat. Beobachten, spüren, wahrnehmen. Welche Erfahrung machst du jetzt in diesem Augenblick? Welches unerfüllte Bedürfnis könnte dahinterstehen?

Etwas, das uns bei schwierigen Emotionen unterstützt: Die Absicht zu setzen, wohltuende Gefühle uns selbst gegenüber zu kultivieren, wie z.B.: liebevolle Freundlichkeit, Verständnis, Grosszügigkeit und Dankbarkeit, sowie Achtsamkeit und Selbstmitgefühl in die schwierigeren Gefühle hineinfliessen zu lassen. Und die eigenen Bedürfnisse anzuerkennen und zu ehren.



«Die Heilung für den Schmerz, ist im Schmerz enthalten.» Rumi


Im Teil II der Reihe geht es um die Aktivierung und die Konsequenzen von toxischer Scham.

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